ostkirchliche Liturgie: Musik und Dichtung

ostkirchliche Liturgie: Musik und Dichtung
ostkirchliche Liturgie: Musik und Dichtung
 
Seit den Anfängen christlicher Gottesdienste stellte der Hymnengesang eine wesentliche Ausdrucksform des Lobpreises Gottes dar. Die ersten jüdisch-christlichen Gemeinden, die der Tradition der Synagoge verbunden waren, hatten aus dem jüdischen Ritus verschiedene Gesänge übernommen, neue Hymnen wurden nach dem Vorbild der alten verfasst. Als das Christentum zunehmend im hellenistisch-heidnischen Kulturraum Verbreitung fand, entstand eine liturgische Hymnik, die vor allem auf hellenistischer Dichtung basierte. Die einzelnen kirchlichen Zentren standen vorerst untereinander nur in einem losen Zusammenhang, sodass sich lokale liturgische Riten ausformen konnten. Von besonderer Bedeutung war Jerusalem, wo Kaiser Konstantin I. (Alleinherrscher 324 bis 337) an den Stätten des Leidens und Sterbens Jesu hatte Kirchen erbauen lassen. Von großem Einfluss auf die liturgische Dichtung und den Gesang waren die poetischen Homilien (= Festtagspredigten) der Kirchenväter, in rhythmischer Prosa verfasst. Unter dem Einfluss dieser Schriften begann in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts eine schrittweise Entwicklung zu einer neuen Form der Hymnendichtung, dem Kontakion, das im 6. Jahrhundert seine Blüte erreichte und als höchste Ausdrucksform der byzantinischen Kirchendichtung gilt. Bedeutendster Repräsentant dieser Gattung ist Romanos der Melode. Er war gebürtiger Syrer und kam zu Beginn des 6. Jahrhunderts nach Konstantinopel. Nach der Legende empfing Romanos von Maria, der Gottesgebärerin (griechisch »theotokos«), die Gnadengabe, Kontakia zu komponieren. Seine große Schaffensperiode fällt in die Regierungszeit Kaiser Justinians I. (527-565). Als Zeichen der in Konstantinopel zentrierten Macht des Byzantinischen Reiches ließ dieser die große Patriarchatskirche, die Hagia Sophia, erbauen. Die große Anzahl an Klerikern in dieser Kathedrale verlangte auch nach einem umfangreichen liturgischen Zeremoniell, in welchem das Kontakion seinen Platz im Morgenoffizium erhielt. Das Kontakion stellt eine glückliche Verbindung von syrischen und griechischen Elementen dar und ist damit eine wesentliche Ausdrucksform byzantinischer Kultur. Es besteht aus einer einleitenden Strophe, dem »Prooimion«, und den »Oikoi«, den metrisch-musikalisch gleich geformten Strophen. Die einleitende Strophe und die Oikoi werden in derselben Tonart (griechisch »ēchos«) gesungen, doch hebt sich das Prooimion in seiner Melodie von den übrigen Strophen ab. Prooimion und Oikoi werden von einem Solisten (griechisch »psaltēs«) vom Ambo aus gesungen, der Chor antwortet auf jede Strophe mit einem Refrain (griechisch »ephymnion«). Im Kontakion kommt das Kunstmittel des Dialogs oftmals so stark zum Ausdruck, dass man vielfach an ein liturgisches Drama erinnert wird. Interpretiert werden heilsgeschichtliche Ereignisse in enger Anlehnung an die Berichte des Neuen Testaments. Das wohl bedeutendste Kontakion der byzantinischen Kirche ist der »Akathistos«-Hymnus zu Mariä Verkündigung am 25. März, auch heute noch in der griechischen Kirche in seiner Gesamtheit gesungen. In 24 Oikoi wird die ganze Heilsgeschichte dargestellt. Die immer neuen gleichnishaften
 
Attribute für Maria, wie: »gegrüßest seist du, unvermählte Braut, Himmelsleiter, auf welcher Gott herniederstieg, Schlüssel der Paradiesespforte«, zeigen das weite Spektrum der theologischen Aussagen der Marienpredigten der Kirchenväter auf. Der musikalische Vortrag verleiht dem Kontakion besondere Ausdruckskraft. Wir dürfen annehmen, dass es sich ursprünglich vor allem um einfache Melodien mit kleinen Verzierungen gehandelt hat, da der Vermittlung des Wortes an die Gläubigen besondere Bedeutung zukam. Erst in den notierten Quellen, die in Byzanz ab dem 10. Jahrhundert erhalten sind, erscheinen die Kontakia als reich ornamentierte Gesänge, die auf Prooimion und 1. Oikos verkürzt wurden.
 
Die zweite Hauptgattung der byzantinischen Hymnendichtung, der Kanon, basiert auf den neun biblischen Oden (Cantica). Zu jeder biblischen Ode wird eine hymnische Ode gesungen, die die thematische Entsprechung zum biblischen Text darstellt. Den Sängern der hymnischen Oden wird das ganze Alte Testament zur Vorankündigung der Heilsgeheimnisse des Neuen Testaments. Jede hymnische Ode besteht aus einem Heirmos, einer Musterstrophe, welcher drei bis vier metrisch-musikalisch gleiche Strophen, Troparia, folgen. Die neun hymnischen Oden bilden zusammen den Kanon. Alle Strophen haben dieselbe Tonart, jedoch hat jeder Heirmos mit seinen Troparia eine eigene Melodie. Die Ursprünge des Kanon gehen auf Palästina zurück. Zur Blüte kam der Kanon in der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts durch Johannes von Damaskus und Kosmas von Jerusalem, Mönche des Sabas-Klosters bei Jerusalem. Der bedeutendste Kanon des Johannes ist wohl der Auferstehungshymnus des Ostersonntags »Tag der Auferstehung«. Ähnlich wie im »Akathistos«-Hymnus werden in den Kanones für die Theotokos, die Gottesgebärerin, bestimmte Bilder zusammengefasst: der Dornbusch, die Himmelsleiter und die verschlossene Tempelpforte. Der folgende Heirmos bringt dies zum Ausdruck: »Dich, welche Moses als unverbrannten Dornbusch sah, als die beseelte Leiter des, als himmlisches Tor, durch welches Christus, unser Gott hindurchgeschritten ist, dich preisen wir hoch in Liedern«. Die Heirmoi und Troparia werden von zwei Chören alternierend im Morgenoffizium gesungen. Nach der 6. Ode wird ein Kontakion von einem Solisten mit reich ornamentierter Melodie vorgetragen. Wenn die Melodien von Kontakion und Kanon auch im Lauf der Jahrhunderte einem Wandel unterlegen sind, so stellen sie dennoch bis heute in der griechischen Kirche einen wesentlichen Bestandteil der liturgischen Gesänge dar.
 
Dr. Gerda Wolfram
 
 
Dalmais, Irénée-Henri: Die Liturgie der Ostkirchen. Aus dem Französischen. Aschaffenburg 21963.
 
Handbuch der Ostkirchenkunde, herausgegeben von Wilhelm Nyssen u. a.Band 1 und 2. Düsseldorf 1984—89.
 Müller, C. Detlef G.: Geschichte der orientalischen Nationalkirchen. Göttingen 1981.
 Onasch, Konrad: Kunst und Liturgie der Ostkirche in Stichworten unter Berücksichtigung der Alten Kirche. Wien u. a. 1981.

Universal-Lexikon. 2012.

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